Fallbeispiel: Wenn die PIN-Nummer zur unausweichlichen Falle wird. Wie Hypnose gegen die Panik beim Vergessen der PIN helfen kann.
Tobias (Name geändert) 29, kam mit einem sehr speziellen Anliegen zu mir in die Praxis. Seine Gedanken kreisten einen Großteil des Tages um den PIN-Code seiner Bankkarten. Bei unserem telefonischen Erstgespräch hatte er sich gefühlt tausendmal dafür entschuldigt, dieses Problem zu haben. Scham und Peinlichkeit schienen eine große Rolle in seinem Leben zu spielen.
"Ich weiß, es ist total unsinnig und komplett irrational und meine anderen Eigenheiten habe ich auch schon ganz gut hingekriegt, aber die Sache mit den PIN-Codes bei meiner EC und auch bei meiner Kreditkarte kann ich nicht abstellen. Meine Partnerin macht es mittlerweile total kirre. So sehr ich mich auch anstrenge, ich kann es nicht kontrollieren", schilderte er mir sein Leid, während er mit den Fingern an den dunklen Haaren seiner Unterarme zupfte.
Tobias strahlte eine enorme Unruhe aus. In diversen ambulanten Therapien und Klinik-Aufenthalten hatte er sich bereits um eine Lösung für sein Anliegen - er nannte es wiederholt: eine meiner Eigenheiten - bemüht. Schon in früher Jugend war er therapeutisch begleitet worden, nachdem seine Probleme immer offensichtlicher geworden waren.
Aufgewachsen in einem Haushalt, in dem eine sehr rigide Erziehung auch unter Einsatz von körperlicher Gewalt praktiziert wurde, schien es so, als hätte Tobias sein Heil in der übertriebenen Ordnung gefunden. Er berichtete von zwanghaften Phasen in seiner Kindheit, in der bestimmte Zahlenkombinationen eine zunehmend größere Rolle gespielt hatten. Damals waren es vor allem Zahlenschlösser mit vierstelligen Codes, die es ihm angetan hatten.
"Was mir schon alles an Diagnosen angeboten wurde, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Von einer anankastischen Persönlichkeitsstörung über Autismus, Zwänge und Posttraumatischer Belastungsstörung ist alles dabei. Ich konnte mich mit keinem so richtig anfreunden, deswegen habe ich irgendwann angefangen, es als meine Eigenheiten zu bezeichnen", sagte Tobias während er mich musterte.
Ich munterte ihn mit einem zustimmenden Nicken auf weiterzusprechen, worauf er fortfuhr.
"Als ich mit neunzehn ins betreute Wohnen kam, war ich froh, endlich von zu Hause weg zu sein. Es war wie ein neues Leben, auch wenn viele der Probleme, die ich mit mir selbst hatte, natürlich nicht sofort weg waren. Ich konnte es kaum glauben, wie friedlich Menschen miteinander leben können."
"Im Laufe der Zeit konnte ich Gott sei Dank viele meiner Macken ablegen. Seit einigen Jahren habe ich eine eigene Wohnung und durfte mit sechsundzwanzig meine jetzige Frau kennenlernen. Ich hätte nie gedacht, dass mir sowas passieren könnte, wer interessiert sich denn schon für einen wie mich", sagte er mit ungläubigem Gesichtsausdruck.
Tobias arbeitete als Pförtner (Sicherheitsdienst) eines großen Industrieunternehmens. Dort konnte er seinem Wunsch nach Ordnung und Korrektheit Ausdruck verleihen. Als seine Frau schwanger wurde, verstärkten sich die Ängste was seine PIN-Nummern betraf enorm.
"Ich fragte ihn: "Magst du mir mal einen Einblick geben, wie du die Problematik in deiner Welt erlebst?"
"Kann ich machen", antwortete er und schnaufte tief durch: "Ich weiß die PIN-Codes natürlich, doch dann sehe ich diese Zahlenkombinationen vor meinem inneren Auge und sie fangen an, sich zu verändern. Sowohl innerhalb einer Reihe als auch, dass sich die Reihenfolge verändert. Dann bekomme ich das starke Bedürfnis die Pin aufzuschreiben und mich zu vergewissern, dass sie auch stimmt. Einmal aufschreiben ist mir aber nicht genug, ich mag sie dann mindestens vier mal aufschreiben."
"Seit mir diese Katastrophe passiert ist, sorge ich mich beim Einkaufen die ganze Zeit über, ob ich die Nummer an der Kasse korrekt eintippen werde. Wenn es mir besonders schlecht geht, zahle ich bar, obwohl ich das nicht so gerne mag."
Vor etwa einem Jahr hatte er an der Kasse seine EC-Karten-Pin vergessen und die Menschen hinter ihm wurden ungeduldig und aggressiv. Da er kaum Bargeld dabei hatte, musste er den Einkauf abbrechen und die Verkäuferin reagierte total genervt. Diese Situation hatte sich nach seinen Worten richtig eingebrannt.
"Wenn du möchtest, schauen wir uns die Situation im Laufe unserer Zusammenarbeit näher an und arbeiten daran", bot ich Tobias an.
Er nickte zustimmend.
"Gibt es Momente, Phasen oder Tage in denen dein Anliegen kaum oder gar keine Rolle spielt?" wollte ich gerne wissen.
Tobias überlegte und nahm sich etwas Zeit bevor er antwortete: "Wenn ich spätabends oder nachts zum Geldautomaten gehe und weit und breit sind keine Menschen da, dann fühlt es sich manchmal ganz leicht an und ich habe für kurze Zeit das Gefühl, alles ist ganz normal."
"Ich bin dann einfach ein ganz normaler Mensch, der seine Bankkarte in den Automaten steckt, seine Pin-Nummer eingibt und Geld abhebt. Das fühlt sich wunderbar leicht und frei an.“ „Vor der Schwangerschaft meiner Frau, gab es solche Tage noch häufiger. Seitdem ich jedoch weiß, dass ich Vater werde, quäle ich mich täglich damit herum.“
„Warum kommt es wieder und wieder? Warum kann ich keine Ruhe davon finden? Ich möchte doch nur wie jeder normale Mensch glücklich und zufrieden leben," stöhnte Tobias, während wir uns gegenübersaßen.
Es war das erste Mal, dass ich eine starke Emotion bei ihm wahrnehmen konnte, und ich fragte ihn: „Tobias, was ist das für ein Gefühl, das du gerade wahrnimmst?“
„Verzweiflung würde ich sagen, es fühlt sich an wie so oft in meinem Leben. Ich bin verzweifelt, weil ich einfach keinen Ausweg sehe. Ich fühle mich original wie ein kleiner Junge, der in seinem Zimmer sitzt und einfach nicht rauskommt. Außerdem habe ich Angst, die Wut und die Aggression der anderen abzukriegen und ich schäme mich“, kam die Antwort.
„Ich möchte so nicht mit meinen Kindern sein und diese Ängste nicht an sie weitergeben.“
„Tobias, deine Sorge und deine Verzweiflung kann ich gut nachvollziehen und ich möchte dir Mut machen. Ich erlebte wie du eine Kindheit mit viel Streit und Gewalt und hatte lange Zeit Angst davor Vater zu werden. Selbst Kinder zu haben ist eine wunderbare Möglichkeit Liebe zu geben und zu wachsen. Auch wenn uns als werdende Väter Selbstzweifel an unseren Fähigkeiten als Elternteil plagen. Es ist eine wunderbare Chance, um zu wachsen“, bot ich ihm an.
„Ich werde auf jeden Fall mein Bestes geben, deshalb bin ich hier“, erwiderte Tobias, sichtlich gerührt. „Für mich ist es eine Offenbarung, mir zu erlauben meine Ängste und Zwänge als Versuch einer Lösung zu sehen. Bisher wollte ich sie einfach nur weghaben.“
Nachdem diese Worte eine Weile im Raum standen, merkte ich an: „Das ist menschlich, Tobias, wir alle wollen Schmerz vermeiden und möglichst viel Freude empfinden. Ist es nicht so?“ Er nickte.
Seelische Leiden sind, nach dem was wir heute wissen, häufig Spiegelbilder, Metaphern und Lösungsversuche für erfahrenes Leid. Parafunktionale Muster, die sich herausbilden, in einer Zeit, in der sie eine Funktion erfüllen (z.B. Struktur, wenn rundherum Chaos herrscht).
Tobias` Angst, seinen PIN-Code zu vergessen oder nicht zu erinnern, muss nicht zwingend mit seiner komplizierten Kindheit und den Folgen zu tun haben. Es ist eine Möglichkeit oder ein Puzzleteil unter vielen.
Unser Gespräch über Kinder war jedenfalls ein Schlüssel, um emotionalen Zugang zu finden. Tobias mochte es, während der hypnotischen Trancearbeit zu sprechen. Schön zu sehen war die Ruhe, die dabei in sein System einkehrte. Er konnte eine tiefe Verbindung herstellen zu seinem ungeborenen Kind und sicherte ihm in der inneren Begegnung zu, ein liebevoller und fürsorglicher Vater zu sein.
Seinem eigenen Vater, den er seit Jahren nicht gesehen hatte, konnte er in der inneren Arbeit seine Verzweiflung, seine Wut und auch seine Angst, die dieser hervorgerufen hatte, zeigen.
Wie viele andere Menschen auch nahm Tobias während der hypnotischen Trance wahr, dass sein Vater ihm im Grunde genommen nur das Beste fürs Leben wünschte, jedoch selbst nie einen liebevollen Umgang erfahren hatte und mit seiner Vaterschaft vollkommen überfordert gewesen war.
Persönlich empfand ich die Arbeit mit Tobias als sehr berührend und außergewöhnlich. Obwohl er im Vorgespräch Bedenken bezüglich seiner Hypnotisierbarkeit geäußert hatte, konnte er leicht in Trance gehen und stellte für sich auch niemals in Frage, hypnotisiert zu sein.
In den folgenden Sitzungen arbeiteten wir unter anderem an dem traumatischen Erlebnis an der Supermarktkasse. Er kam auf die Idee, dort imaginäre Bodyguards an seiner Seite zu haben, die ihn schützten. So konnte er in aller Ruhe seinen Pin-Code eingeben und bezahlen.
Auch die Möglichkeit, das Tempo seiner inneren Bilder steuern zu können, empfand er als sehr hilfreich.
"In Zeitlupe verschwimmen die Zahlen viel weniger und ich kann mich von ihrer Richtigkeit überzeugen", hatte er es in der Nachbesprechung beschrieben.
Von außen sah es so aus, als ob er während der Trancearbeit innerlich alles an seinen rechten Platz rücken würde und ich war aufrichtig beeindruckt von seinen Fortschritten.
Ein besonders interessantes Detail erwartete uns am Ende einer jeden Sitzung, denn dann hatte Tobias vor Ort Gelegenheit, seine Sitzung per EC-Karte zu bezahlen, wobei sein Pin-Code vonnöten war. Ich hatte ihm angeboten, zunächst per Überweisung oder bar zu bezahlen, doch er bestand von Anfang an darauf, seine Bankkarte zu benutzen.
Einen Vorgang, der für viele Menschen selbstverständlich scheint, sehe ich seitdem mit ganz anderen Augen.
Fazit: Eine Problematik wie die extreme Angst vor dem Vergessen der PIN-Nummer mag für viele Menschen außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegen oder gar lächerlich erscheinen. Ich möchte an dieser Stelle werben, für mehr Verständnis im Bezug auf ungewöhnliche Phänomene, um nicht zu sagen im Bezug auf ungewöhnliche Störungsbilder oder Krankheiten.
Auch wenn Tobias` Erleben nach ICD-Maßstäben viele Kriterien einer „Zwangsproblematik“ erfüllte, mochte er diesen Stempel nicht aufgedrückt bekommen.
Keiner von uns ist gefeit gegen Ängste, Zwänge und andere Erscheinungen aus dem Spektrum der psychischen Erkrankungen. Ich mag das Wort Herausforderungen lieber. Ich bin aus tiefstem Herzen überzeugt davon, dass wir mit großer Offenheit, mit Einfühlungsvermögen, Neugier und mit dem, was wir Hypnose nennen, Lösungen für eine Vielzahl der auftretenden Probleme finden können.
Tobias ist ein wunderbarer Mensch, der wie viele von uns schmerzhafte Erfahrungen erlebte, die ihn prägten. Ich bin sicher, er wird ein fürsorglicher Vater sein, der sich seinen Ängsten und Herausforderungen stellt, so dass er seiner Familie Geborgenheit und Liebe vermitteln kann.
Hypnose ist eines der ältesten Heilverfahren, die wir kennen. 2006 wurde sie vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) anerkannt. In der Regel kommen meine Praxisbesucher*innen zwischen drei und fünf Mal zur Behandlung, um eine Lösung für ihr Problem zu finden.
Im Vorfeld einer Hypnosetherapie bei Ängsten oder Zwängen solltest Du, wie bei anderen Anliegen auch, organische Ursachen für deine Beschwerden ausgeschlossen haben. Tobias` Fall ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie kraftvoll Hypnose sein kann, um das Leben eines Menschen positiv zu verändern. Mehr über Jojo Weiß.
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